Fahrphysik – kein Buch mit 7 Siegeln!!
Um Fahrphysik und Fahrdynamik kursieren die merkwürdigsten Geschichten, wer aber das Potenzial seines getunten Autos nutzen will, der muss auch fahrerisch in der Lage sein es umzusetzen. Und um es erfolgreich umsetzen zu können, müssen einem zumindest die wichtigsten Grundlagen bekannt sein, was beim Fahren eines Fahrzeugs überhaupt vor sich geht.
Wir haben das Thema aufgegriffen und erklären dir Schritt für Schritt, welche physikalischen Kräfte auftreten, worauf es zu achten gilt und wie man sich dieses Wissen zunutze machen kann, um z.B. sein Auto besser und sicherer im Grenzbereich bewegen zu können.
Physikalische Grundlagen
Jede Bewegung unterliegt ohne Ausnahme den Naturgesetzen und spürbar werden sie für uns nur dann, wenn etwas schief läuft: Der schmerzhafte Ausrutscher bei Glätte ist physikalisch gesehen nichts anderes als der Ausritt des Autofahrers in einer zu schnell gefahrenen Kurve. In beiden Fällen reicht die „Bodenhaftung“ nicht aus, um den Fußgänger bzw. das Fahrzeug stabil zu halten.
Die Gesetze der Fahrphysik sind vom Menschen nicht zu beeinflussen und gelten für jeden in gleichem Umfang als absolute Grenze. Technische Verbesserungen führen uns näher an die absolute Grenze heran: z.B. bessere Straßen, Fahrwerke, Reifen, Stoßdämpfer, konstruktive Maßnahmen wie tiefer gelegte Fahrwerke, Querstabilisatoren, aerodynamische Hilfsmittel (Spoiler), Fahrdynamikhilfen usw.
Unterschiedliche Bedingungen erzeugen unterschiedliche Grenzen
Die Kunst des Fahrers liegt nun in seiner Fähigkeit, die unterschiedlichen Bedingungen und den daraus resultierenden physikalischen Grenzen zu erkennen. Jede fahrphysikalische Betrachtung beginnt deshalb mit der Frage nach der zur Verfügung stehenden Reibung zwischen Reifen und Fahrbahnoberfläche (dem Kraftschlussbeiwert) und der auf das Fahrzeug wirkenden Kräfte – diese Kräfte gilt es mit der zur Verfügung stehenden Reibung zu beherrschen.
Wie definiert sich Reibung?
Die Reibung wirkt der Bewegung sich berührender Körper (in unserem Fall Reifen und Fahrbahn) entgegen und die Messgröße ist die Reibungszahl µ (griechischer Buchstabe; Aussprache: mü). Sie kennzeichnet immer eine Systemeigenschaft, hier des Systems Reifen/Fahrbahn, und ist hauptsächlich abhängig von der Reifenbauart, der Gummimischung, der Lauffläche, der Profilgestaltung, der Fahrbahnoberfläche (und deren Zustand Wasser, Schnee, Eis, Sand) sowie der Temperatur.
Die Reibungszahl wird zwischen 0 (keine Reibkraft vorhanden) und 1 (theoretisch maximale Reibkraft, entsprechend dem Wert der Anziehungskraft der Erde mit rechnerisch 9,81 m/s2) benannt. Über dem Wert 1 liegende Reibungszahlen sind durch Verbesserung der Reibkraft möglich; regelmäßig wird dies durch Veränderung der Reifentechnik (vgl. den Aufwand an Rennreifen) und durch konstruktive Maßnahmen am Fahrzeug erreicht.
Welche Arten von Reibung gibt es?
Die Physik unterscheidet zwischen Haftreibung und Gleitreibung.
Haftreibung: Sie besteht dann, wenn ein Körper durch die Massenanziehungskraft der Erde zwar zur Unterlage angezogen, aber nicht bewegt wird – diese Reibungsart ist die größte.
Gleitreibung: Sie besteht dann, wenn der Körper auf der Unterlage gleitet – die Gleitreibung ist kleiner als die Haftreibung.
Rollreibung: Sie besteht dann, wenn der Körper zwar durch die Massenanziehungskraft zur Unterlage angezogen wird, jedoch auf der Unterlage rollt (z. B. ein Rad); die Rollreibung ist die kleinste aller Reibungen.
Reibung ist immer abhängig von der Beschaffenheit der Berührungsflächen zwischen zwei Körpern. Ausgedrückt in der Reibungszahl µ und der Anpresskraft, in unserem Fall der Gewichtskraft N (Newton). Die Haftreibungszahl ist immer größer als die Gleitreibungszahl und wesentlich von der gefahrenen Geschwindigkeit und dem Fahrbahnzustand abhängig.
Wie definiert sich die Gewichtskraft?
Ohne Gewichtskraft ist Reibung nicht möglich. Grundlage sind die Massenanziehungskräfte zwischen der Erdkugel und dem jeweils zu betrachtenden Körper, in unserem Fall dem Pkw. Die Massenanziehungskräfte erzeugen eine Gewichtskraft (G), die mit der Newton’schen Formel F = m x a berechnet wird. Dabei steht F für die Gewichtskraft G und a für die Fallbeschleunigung g – sie wird üblicherweise mit dem Näherungswert 9,81 m/s2 angesetzt. Es wird 1 kp (Kilopond) als diejenige Kraft definiert, mit der die Masse von 1 kg (Kilogramm) an einem Ort der Erde auf ihre Unterlage drückt. Zum Verständnis: Ein Pkw mit einem Gewicht von 1.000 kg drückt mit einer Kraft von 10.000 Nm auf die Straße.
Die Gewichtskraft (Aufstandskraft) entsteht durch das Gewicht des Fahrzeugs, sie allein sagt aber noch nichts über die Reibkraft aus, die der Reifen übertragen kann. Dazu muss man den Kraftschlussbeiwert (oder Haftreibungsbeiwert) kennen. Der wiederum ist abhängig von der Fahrgeschwindigkeit, vom Reifenzustand und vom Straßenzustand – siehe nachfolgende Tabelle.
Fahrge- schwindig-keit km/h | Reifen-zustand | Straßen-zustand trocken | Straßen- zustand nass Wasserhöhe ca. 0,2 mm |
Straßen-zustand starker Regen Wasserhöhe ca. 1 mm | Straßen-zustand Pfützen Wasserhöhe ca. 2 mm | Straßen- zustand vereist |
Haftreibungszahl | ||||||
50 | Neu | 0,85 | 0,65 | 0,55 | 0,5 | 0,1 und kl. |
50 | Abgenutzt | 1 | 0,5 | 0,4 | 0,25 | 0,1 und kl. |
90 | Neu | 0,8 | 0,6 | 0,3 | 0,05 | 0,1 und kl. |
90 | Abgenutzt | 0,95 | 0,2 | 0,1 | 0,05 | 0,1 und kl. |
130 | Neu | 0,75 | 0,55 | 0,2 | 0 | 0,1 und kl. |
130 | abgenutzt | 0,9 | 0,2 | 0,1 | 0 | 0,1 und kl. |
Was versteht man unter Massenträgheit?
Die Massenträgheit äußert sich im Beharrungsvermögen eines Körpers (hier das Fahrzeug) und widersetzt sich jeder Änderung seines Ruhe- oder Bewegungszustands. Sämtliche Änderungen brauchen daher eine Kraft.
Beim Durchfahren einer Kurve bewegt sich der Schwerpunkt des Fahrzeugs auf einer Bahn um den Kurvenmittelpunkt. Die Fliehkraft greift am Schwerpunkt an und zieht es zur Kurvenaußenseite.
Während der Kurvenfahrt wird das Fahrzeug zusätzlich am Schwerpunkt um die Hochachse gedreht. Zum Verständnis: In einer Kreisbahn wird das Fahrzeug pro Runde einmal um sich selbst gedreht. Aufgrund der Massenträgheit stemmt sich das Fahrzeug also nicht nur gegen die Kurvenfahrt (weil es angesichts des Beharrungsvermögens lieber geradeaus fahren würde, wenn es schon in Bewegung gesetzt werden muss), sondern zusätzlich auch noch gegen die Einleitung der Drehbewegung und am Ende der Kurvenfahrt auch gegen deren Abbruch.
Zum Verständnis: Ein in Ruhe befindliches Kinderkarussell braucht erhebliche Leistung, um ins Drehen gebracht zu werden; es am Drehen zu halten erfordert dagegen wenig Leistung, Steigerungen, Verminderungen und Abbremsen der Drehgeschwindigkeit erfordern dafür wieder mehr. Also müssen die Reifen neben den Fliehkräften auch noch die in den Übergangsphasen auftretenden Drehkräfte aus der Massenträgheit verkraften. Diese sind umso größer, je schneller gelenkt wird.
Kurvenfahrt
Beim Einleiten der Kurve haben daher die Vorderräder mehr zu leisten als die Hinterräder. Jedes – auch mit Heckmotor ausgestattete – Fahrzeug wird deswegen am Anfang der Kurve kurzzeitig untersteuern: Das Fahrzeug muss weiter eingelenkt werden, als der Radius der Kurve dies eigentlich erfordert; die Vorderreifen bauen über einen größeren Schräglaufwinkel die notwendigen Reibkräfte auf, bis die Vorderräder die Drehbewegung um die Hochachse eingeleitet haben. Gleichzeitig müssen die Räder auch die notwendigen Seitenkräfte übertragen.
Von großer Bedeutung ist dabei die Lage des Schwerpunkts im Fahrzeug. Sitzt der Motor vorn, befindet sich der Hebel zur Vorderachse, also zum Angriffspunkt der Drehkraft – kurzum, die Vorderräder haben es schwer, die neue Fahrtrichtung einzuleiten
Hat das Fahrzeug einen Heckmotor, ist der Hebel für die Vorderachse (Distanz zwischen Vorderachse und Schwerpunkt des Fahrzeugs) länger – mit der Folge, dass die Drehbewegung um die Hochachse leichter eingeleitet werden kann.
Wenn sich jetzt noch der Kurvenradius verengt und/oder die Geschwindigkeit verringert, wird die Fahrzeugmasse in der gerade eingeleiteten Drehbewegung erneut gestört; die Vorderräder verstärken die Drehung um die Hochachse.
In diesem Fall ist mit einem Ausbrechen des Fahrzeughecks (Übersteuern) zu rechnen, und zwar auch bei Fahrzeugen mit Vorderradantrieb. Hier liegt der Grund für einen erheblichen Teil der Kurvenunfälle, die durch unkontrolliertes Hineindrehen des Fahrzeugs in die Kurve ausgelöst werden. Sie sind fahrphysikalisch durch rechtzeitiges und dosiertes Gegenlenken vermeidbar. Die vorhandenen Reibkräfte der Vorderräder reichen zum Befahren der Kurve aus; die Vorderachse folgt dem vom Fahrer vorgegebenen Lenkradeinschlag, wodurch eine stärkere Drehbewegung eingeleitet wird. Reicht jetzt die Reibkraft an der Hinterachse (Summe der von beiden Hinterrädern aufgebauten Reibkräfte) nicht mehr aus, diese Drehbewegung wenigstens zu halten, wird das Heck des Fahrzeugs ausbrechen. Dabei wirken sich Radlastverlagerungen durch Gaswegnehmen zusätzlich ungünstig aus, weil da- durch die Hinterräder etwas entlastet werden und deswegen nur noch eine entsprechend verminderte Reibkraft übertragen können. Gleichzeitig übertragen die Vorderräder wegen der jetzt auf ihnen liegenden höheren Gewichtskraft mehr Seitenkraft und ziehen das Fahrzeug in die Kurve hinein. Das Ergebnis ist eine Drehung des Fahrzeugs um die Hochachse (Gieren).
Beim Verlassen der Kurve müssen die Hinterräder die durch die Kurvenfahrt eingeleitete Drehbewegung wieder abfangen. Bei Frontmotorfahrzeugen geht dies verhältnismäßig gut, weil der Hebel (Entfernung zwischen Hinterachse und Schwerpunkt des Fahrzeugs) für die Hinterräder lang und damit günstig ist.
Anders dagegen beim Fahrzeug mit Heckmotor: Hier ist der Hebel zwischen Schwerpunkt und Hinterachse sehr kurz, so dass die Hinterräder schnell mit dem Abfangen des Massenträgheitsmoments überfordert sind. Auch hier ist die fahrphysikalische Abwehrmaßnahme das dosierte Gegenlenken.