Fahrzeuge werden auf die Reifen abgestimmt – nicht umgekehrt

Aus Kostengründen schreibt das Reglement zum Beispiel in der DTM oder in der ADAC GT Masters eine einheitliche Reifen-Spezifikation vor. Deshalb müssen die Fahrzeuge auf den Reifen und die jeweiligen Bedingungen der Rennstrecke abgestimmt werden. Ein komplizierter Prozess mit vielen Parametern, der die Suche nach dem richtigen Setup zu einer Gleichung mit vielen Unbekannten werden lässt. Wer es am besten nutzt, kann sich die entscheidenden Zehntelsekunden absetzen.

Die ewige Suche nach dem optimalen Kompromiss

Jedem Rennfahrer geht es bei dem Kampf um Punkte und Platzierungen um ein Höchstmaß an Grip. An jedem Rennwochenende stehen Fahrer und Teams also vor der zentralen Frage: Wie kann ein Maximum an Kontaktfläche zwischen Reifen und Strecke in allen Streckenbereichen erzielt werden, um dann ein Optimum an Grip zu erhalten?

Schließlich gilt die Grundregel: Je mehr Haftung, desto mehr Motor- und Bremsleistung kann auf die Straße gebracht werden, um mit schnelleren Rundenzeiten die Konkurrenz hinter sich zu lassen. Um sowohl auf der Geraden als auch in engen Kurven das Grip-Maximum zu erreichen, müssen die Piloten einen Kompromiss eingehen: Durch die Fliehkräfte in Schikanen und Spitzkehren verändert sich die Größe und Form der Bodenaufstandsfläche der Reifen im Vergleich zu geraden Top-Speed-Passagen, in denen keine Seitenkräfte auf das Fahrzeug wirken.

Um das Setup zu optimieren, muss das Team versuchen, auf Basis physikalischer Gesetze die optimale Abstimmung des Rennfahrzeugs zu realisieren. Doch letztlich entscheidet die Fahrweise des Piloten, welche Parameter seines individuellen Setups bei der Jagd nach schnellen Rundenzeiten oder im Rennen am besten geeignet sind. Manche Fahrer bevorzugen leicht übersteuernde Autos, die sie stets am Limit bewegen. Andere haben lieber ein sicheres Gefühl, wenn sie in die Kurven einbiegen und stellen ihr Fahrzeug eher untersteuernd ein. Das ist Geschmacksache, denn beide Einstellungen können in der Summe durchaus gleich schnell sein.

Unterschiede beim Setup für Qualifying und Renndistanz

Bevor die Spezialisten die Arbeit an einem Rennwochenende aufnehmen, muss eine wichtige Grundsatzentscheidung gefällt werden: Richtet man seine Arbeit am Setup auf das Qualifying oder auf die deutlich längere Renndistanz aus? Der jeweils richtige Kompromiss für Training und Rennen bzw. die unterschiedlichen Parameter müssen in den Trainings erarbeitet werden. Daher tauschen die meisten Teams gleicher Marke intern die Daten aus. Ein Fahrer wird mehr auf das Qualifying angesetzt, andere auf Long Runs, die Aufschluss über die Rennperformance geben. Bei den Long Runs wird auch das Zeitfenster für den Pflichtboxenstopp erarbeitet. Da sich das Verhalten des Fahrzeugs über die Renndistanz verändert – Reifen und Benzinmenge spielen die Hauptrolle – müssen die Teams auf jeder Rennstrecke wieder aufs Neue Teile der Renndistanz simulieren, um zu wissen, wann der optimale Zeitpunkt fürs Tanken und Reifenwechseln ist.

Für eine schnelle Trainingsrunde wird eine deutlich aggressivere Abstimmung gewählt. Das Setup muss so ausgelegt sein, dass die Reifen schon in der Einführungsrunde auf Temperatur kommen, damit die zweite Runde die bestmögliche Zeit erlaubt. So wird zum Beispiel für das Zeittraining ein Sturzwert eingestellt, der den Reifen über die gesamte Renndistanz über Gebühr beanspruchen würde. Für das Qualifying wird meistens ein niedrigerer Luftdruck gewählt. Wenig Luft bedeutet für die eine schnelle Qualirunde eine größere Reifenaufstandsfläche, die natürlich mehr Grip bringt. Doch ein Reifen mit weniger Luftdruck ist anfälliger gegen äußere Einwirkungen und kann beim Räubern über kantige Kerbs schneller beschädigt werden.

Ist der beste Kompromiss zwischen Schnelligkeit und Haltbarkeit gefunden?

Auf der anderen Seite wirken die zahlreichen harten Schläge und die warme Abluft der Bremsen gleichzeitig wie eine Luftpumpe und der Luftdruck steigt an. Bei 80 bis 120 Grad Celsius erreicht der Rennreifen den optimalen Wirkungsgrad. Wird ein Reifen vorgeheizt, werden diese Temperaturen auf Anhieb erreicht. Durch Erhöhung der Temperatur wird die Laufflächenmischung weicher. Folge: das Grip-Niveau steigt. Damit die innere Reibung der Reifenbestandteile für Wärme sorgt, muss der Reifen richtig arbeiten – Fachleute sprechen von Walken. Doch wie so oft bei der Suche nach dem optimalen Setup folgt im Spiel zwischen Dämpfer-, Stabilisatoren-, Feder-, Spur- und Sturzeinstellungen und Aerodynamik auf eine Reaktion eine Gegenreaktion. Auch beim Walken, der Bewegung in der Seitenwand, gibt es einen konträren Effekt.

 

Aerodynamik, Achslastverteilung und die Arbeit des Reifens

Der aerodynamische Anpressdruck sorgt zum Beispiel für erhöhte Walkarbeit. Bei einer Achslastverteilung von 50:50 lasten jeweils 525 Kilogramm (bei einem Mindestgewicht von 1050 Kilogramm) auf Vorder- und Hinterachse. Wenn ein Rennwagen im statischen Zustand circa zwölf Millimeter (bei einem Kaltluftdruck von 1,5 bar) einfedert, erhöht sich das Gewicht bei einer Geschwindigkeit von circa 230 km/h um das Zweifache. Das heißt, das Fahrzeug federt nun auch 24 Millimeter ein. Es gilt die Regel: Je größer der Federweg pro Radumdrehung, desto höher ist der Rollwiderstand. Dieser Rollwiderstand und die damit verbundene verstärkte Walkarbeit und Erhöhung der Reifentemperatur kann reduziert werden, in dem der Luftdruck korrigiert – in diesem Fall also erhöht wird. Dann übernimmt der Reifen auch gleichzeitig einen größeren Teil der Dämpfungsaufgaben. Neben den verschiedenen Optionen am Fahrwerk beeinflusst auch die Aerodynamik das Fahrverhalten. Unterschiedliche Einstellung von Front- und Heckflügel sorgen für einen unterschiedlich hohen Anpressdruck, der im Fachjargon Downforce genannt wird. Im Durchschnitt liegt der Anpressdruck bei einem DTM-Wagen bei circa 500 Kilogramm, kann sich allerdings bei extremen Belastungen bis auf annährend das Doppelte erhöhen. Wie stark die Einstellung an den Flügeln verändert wurde, kann nicht direkt am Reifen ausgelesen werden. Daher bekommen die Reifentechniker von den Renningenieuren der Teams eine absolute Downforce-Angabe, die sie bei Ihren Empfehlungen rund um den Parameter Reifen berücksichtigen müssen.

Sturz – Der Kampf gegen Unter- und Übersteuern

Da der Rennwagen in Kurven nach außen getragen wird, kann ein negativer Sturz den Fliehkräften entgegenwirken. Mit Sturz ist die jeweilige Neigung des Rades nach innen oder außen bezeichnet. Blickt man auf die Front eines Fahrzeuges, so ergeben Räder, die an der Oberkante nach außen geneigt sind, einen positiven Sturz, wohingegen Räder, die nach innen geneigt sind, einen negativen Sturz ergeben. Da bei der Kurvendurchfahrt die Fliehkräfte den Reifen auf der Unterseite nach außen drängen, stellt sich ein Rad mit negativem Sturz diesen Kräften entgegen – die Kontaktfläche und damit auch die Haftung werden größer. Ein negativer Sturz auf der Vorderachse verringert zudem das Untersteuern und verhindert, dass die Fahrzeugfront nach außen getragen wird. Ein negativer Sturz hinten dagegen minimiert das Übersteuern, das heißt er wirkt einem Ausbrechen des Fahrzeughecks entgegen. Die  endgültige Einstellung des Sturzwinkels an den beiden Achsen hängt von einer Reihe unterschiedlicher Parameter ab und muss für jede Strecke neu ermittelt werden.

Auf der Geraden sorgen hohe Sturzwerte für stärkere Abnutzung

Der Haftungsvorteil durch einen negativen Sturz in der Kurve gilt allerdings nicht mehr auf der Geraden, auf der keine seitlichen Fliehkräfte auf den Rennwagen einwirken. Hier kehrt sich ein negativer Sturz mit zunehmendem Neigungswinkel ins Gegenteil: Der Reifen steht bei der Geradeausfahrt schräg, hat damit nicht mehr den größtmöglichen Kontakt zur Straße und belastet die innere Reifenschulter. Die Suche nach dem richtigen Setup ist auch eine Suche nach dem Kompromiss zwischen größeren oder kleineren Sturzwinkeln. Die Reifen gestatten durch ihr Design eine vergleichsweise hohe Toleranz zwischen beiden Alternativen. Sowohl bei Slicks als auch bei den Regenreifen empfehlen die Reifentechniker Maximalwerte, die bei circa -4°30’ an der Vorderachse und rund -3° an der Hinterachse in Abhängigkeit von Reifenluftdruck sowie Vorheiztemperatur und -dauer der Reifen liegen. Unterstützt von den Reifeningenieuren ist es dann Aufgabe der Teams, das beste Zusammenspiel der unterschiedlichen Parameter auszutesten. Rund ein Grad weniger Sturz beim Regen-Setup im Vergleich zum Trocken-Setup, aber auch weichere Federn und Stabilisatoren sind die auffälligsten Merkmale der auf Regen vorbereiteten Fahrzeuge.

Eine Gleichung mit Variablen, nicht mit Konstanten

Hat die Strecke wenig Grip, kommt die Lauffläche durch häufiges Rutschen schnell auf hohe Temperaturen, der Luftdruck im Inneren des Reifens steigt dann überproportional an, und es besteht die Gefahr der Überhitzung. Gleichzeitig wird die optimale Arbeitstemperatur des gesamten Reifens nicht erreicht. Ist die Asphaltoberfläche dagegen rau, kommen die Reifen schneller auf Temperatur und erreichen schneller den Optimaldruck. Es ist wichtig, dass bei diesem Balanceakt die optimale Betriebstemperatur nicht überschritten wird. Ein Prozess, der besonders durch sich ständig wechselnde externe Einflussfaktoren wie zum Beispiel Außentemperatur, Wind, Feuchtigkeit und natürlich Asphaltbeschaffenheit und -temperatur von den Renn- und Reifeningenieuren flexible Reaktionen verlangt.

Die meisten Werte sind nicht konstant, sondern variabel und ändern sich während eines Rennwochenendes. Offensichtlich sind Veränderungen bei Strecken wie dem Norisring: Der Stadtkurs wird nur einmal im Jahr befahren, erst wenn mit jeder Rennrunde immer mehr Gummi auf der Asphaltdecke hängen bleibt, haften die Pneus optimal. So steigt das Gripniveau im Verlauf des Rennwochenendes immer mehr an – die Beschaffenheit der Strecke ändert sich also fortschreitend. Aber auch ganzjährig genutzte Strecken bieten wechselnde Bedingungen. Der Kurs im niederländischen Zandvoort liegt in unmittelbarer Nähe zum Nordseestrand. Der Wind bläst immer wieder feine Sandkörner aus den angrenzenden Dünen auf die Strecke. Hier muss das Asphaltband ständig ein wenig frei gefahren werden, um das Gripniveau zu erhöhen.

 

Die Informationen, die gefahrene Reifen während und nach den Trainings liefern, sind für die Reifeningenieure von unschätzbarem Wert.

Bei Überlastung (Überhitzung) sieht die Reifenoberfläche sehr stark gekörnt aus (graining) – erstes Bild. Sieht die Reifenoberfläche aus, wie auf dem mittleren Bild, dann rollt der Reifen im Schulterbereich zu sehr oder die Spur (Vor- oder Nachspur) ist nicht passend eingestellt. Wenn alle Parameter optimal aufeinander abgestimmt sind und zusammenspielen, dann sollte die Reifenoberfläche wie im untersten Bild dargestellt, aussehen.